2.2
Charles Lapicque
Kurz vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges sitzen zwei bedeutende Persönlichkeiten nebeneinander in einem Flugzeug: Am Steuerknüppel der Pilot und spätere Verfasser des «Kleinen Prinzen», Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944), und daneben Charles Lapicque (1898–1988), damals Wissenschaftler und später weltberühmter Maler. Auf dem gemeinsamen Flug sollte der junge Künstler Charles Lapicque – für den Krieg mobilisiert, am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Toulouse – Studien zur Farbwirkung beim Nachtflug erstellen und Tarnmuster entwerfen. Seine damals erarbeiteten Theorien zur Farbwirkung werden später die moderne Malerei prägen – André Breton hat Lapicuqe bereits 1961 als «einer der zehn wichtigsten lebenden Kunstschaffenden» bezeichnet, heutzutage wirken die Arbeiten des Künstlers aktueller denn je.
Die Agentur präsentierte vom 20. Oktober bis zum 13. November 2022 in ihrer nomadischen Galerie Gemälde und Zeichnungen von Charles Lapicque. Die ausgestellten Arbeiten – einige davon sind 1978 im Centre Pompidou gezeigt worden – stammen aus einer alten Privatsammlung und sind erst nach mehr als 50 Jahren wieder auf dem Markt.
Im Flugzeug mit Saint-Exupéry
Charles Lapicque wächst wohlbehütet in Paimpol auf, einem Küstenstädtchen in der Bretagne. Ausgebildet wird Lapique als Elektroingenieur. Daneben beginnt er autodidaktisch zu malen. Ermutigt durch seine Frau, arbeitet er immer mehr an seinem künstlerischen Werk und wird schliesslich von Jeanne Bucher, der berühmten Pariser Galeristin, entdeckt und erfolgreich ausgestellt. Trotz der grossen Anerkennung verfasst er eine Dissertation im Bereich Physik: Charles Lapique entscheidet sich, Kunst und Wissenschaft zu verbinden. Er untersucht im Rahmen der Arbeit die Funktionsweisen des menschlichen Auges im Bezug auf Farben. Im Zentrum steht die Entwicklung von Nachtsichtgeräten. Im Krieg ist der Maler dafür verantwortlich, Tarnmuster zu entwerfen und die Farbwirkung aus der Flugzeugperspektive zu untersuchen. Pilot während dieser Untersuchungsflüge ist Antoine de Saint-Exupéry, der Schöpfer der weltweit bekannten Geschichte «Der kleine Prinz». Nach dem Krieg widmet sich der Künstler ausschliesslich der Malerei. Inspiriert durch seine Kenntnisse als Physiker, kümmert sich Lapicque um Messverfahren des sichtbaren Lichts und Farbwahrnehmung, um die Lichtdurchlässigkeit von Blau- und Rot-Tönen oder um die Problematik von Nah- und Fernsicht.
Wissenschaft und Malerei
Ein Blick auf die lange Schaffenszeit des Künstlers zeigt, dass sein Stil stets einem Wandel und zahlreichen Neuerungen unterworfen ist. Eine Konstante im Werk bildet das Interesse an der Farbwirkung und damit verbunden den wissenschaftlichen Forschungen. Lapicuqe vertieft sich immer mehr in die Geheimnisse der Farben, insbesondere von Rot und Blau. Auf der Grundlage seiner Studien der Optik und des Lichts stellt er beispielsweise fest, dass Rot, Orange und Gelb Farben sind, die in einer Bildebene die Wahrnehmung von Distanz vermitteln, während Blau das Gefühl von Nähe, Festigkeit und Vordergrund vermittelt. Diese innovative Herangehensweise an die Farben, stellt eine Herausforderung für die traditionelle figurative Malerei dar, in der Blau die Farbe des fernen, weitreichenden Himmels ist.
Seltene, intime Zeichnungen aus einer unbekannten Privatsammlung
Christian Herren freut sich darauf, in seiner Ausstellung nebst einigen farbigen Gemälden und Gouachen - darunter das Hauptwerk «L'embarquement pour cythère» - vor allem auch unbekanntere monochrome Zeichnungen zu zeigen. Diese schwungvollen Werke, die oft zerrissen worden sind, wenn Lapicque sie für schlecht befunden hat, sind in privaten und öffentlichen Sammlungen sehr selten zu finden, was dieser Ausstellung einen besonderen Wert verleiht.
Charles Lapicque – ein «zeitgenössischer» Maler
Jahrelang sind der Kunstmarkt und Kunst-Museumsausstellungen von abstrakter und konzeptueller Kunst dominiert worden. Spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre ist jedoch die figurative Malerei wieder in den Vordergrund getreten; momentan erlebt diese Jahrhunderte alte Kunstform sogar einen regelrechten Aufschwung. Stile, Herangehensweise und Bilder sind dabei sehr unterschiedlich. Einige dominierende Themen lassen sich jedoch herauskristallisieren: Beispielsweise die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Identität – Fragen nach Herkunft, Kultur und Ideologien, oder der verspielte, neopoppige Umgang mit leuchtenden Farben und flachen Mustern. Letztere, diese bunten Universen, die von der Popkultur und der Kunstgeschichte inspiriert sind, bauen eine spannende Brücke zu Charles Lapicque: Als Mitbegründer der «Ecole de Paris», sind seine Werke zwischen 1939 und 1943 zuerst entscheidend für die Entwicklung der ungegenständlichen Malerei. Auf die Gegenständlichkeit zurückkehrend, pflegt der Künstler jedoch schnell einen avantgardistischen, meisterhaften Umgang mit Farben, oftmals rein und direkt aus der Tube verwendet und gibt so wesentliche Impulse auf spätere Strömungen wie der Pop Art. In seiner 60-jährigen Schaffenszeit setzt er Themen wie Landschaft, Kunstgeschichte und Architektur in Zeichnung und Malerei um. Der Nachkriegsstömung «Neue Figuration» stets nahestehend, lässt sich der Stil Lapicques nur schwer festlegen. Gerade diese unaufhörliche Suche nach neuer Darstellungsweise und die Nähe zur Wissenschaft, evozieren eine Nähe zu den Ansätzen der postmodernen Kunst und Bad-Painting.